Cerams Buch über die Hethiter - Eine frühe Chronologie-Kritik
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Berlin 2000 ·  Uwe Topper topper

Der populäre Autor C. W. Ceram, dessen Bücher in Hunderttausender-Auflagen erschienen und von ›aller Welt‹ gelesen wurden, schrieb in seiner anschaulichen Schilderung der Entdeckung der hethitischen Königreiche »Enge Schlucht und Schwarzer Berg« (1955) ausführlich über das Chronologie-Problem. Im 7. Kapitel, »Die Könige von Hattusas«, macht er sich Gedanken über den wissenschaftlichen Wert der Geschichtsschreibung. Er zitiert Leopold von Ranke, der bloß »zeigen will, wie es eigentlich gewesen« ist, und macht daran klar, daß dies eben nicht das Ziel der Geschichtsschreibung sein kann. Spenglers entgegengesetzter Standpunkt (1936/1951) wird als »Geschichtsschreibung ist Dichtung!« charakterisiert, der Historiker ist kein Wissenschaftler, sondern ein Deuter.
Doch dann wagt er sich aufs Glatteis: 1590 v.Chr., das Jahr, in dem der hethitische Reichsgründer Mursilis I ermordet wurde, ist »einer der wenigen Fixpunkte der hethitischen Geschichte«. Anschließend berichtet er »von einem jener Mißverständnisse, wie es keiner wissenschaftlichen Disziplin in ihrer Geschichte erspart geblieben ist.« Es handelt sich um eine Lücke von 200 Jahren in der hethitischen Königsabfolge (zwischen 17. und 15. Jh. v.Chr.), für die jedes Dokument fehlte, und »die auch nicht durch Analogien mit der Geschichte anderer Völker ... zu füllen war.« In der Tabelle der hethitischen Könige von Kurt Bittel (1937) war hier ein weißes Feld. Man »versprach aber baldige Lösung«.
Ceram fragt sich nun berechtigterweise: »Konnte es das gegeben haben? Provinzielle Bedeutungslosigkeit – zweihundert Jahre lang – in sonst kontinuierlicher Entwicklung eines Großreiches?« und stellt Vergleiche zur Neuzeit an, die das Absurde dieser Vorstellung krass hervorkehren.
Die Lösungsversuche »reizten zu den gewagtesten Hypothesen. Alle Hypothesen waren falsch.« Und doch kam niemand auf die einfachste Lösung, nämlich zu vermuten, »daß vielleicht lediglich alle bis dahin erarbeiteten Daten falsch waren.«
Das ganze 8. Kapitel widmet er nun dem Thema Chronologie unter der Überschrift »Die Wissenschaft vom historischen Datum.« Hierzu zitiert er auch Egon Friedell (1951): »Seine (des Menschen) stärkste Sehnsucht, sein ewiger Traum ist: Chronologie in die Welt zu bringen.« Ein schöner Traum, eher eine Seifenblase, eine »Illusion«, wie Friedell sagt. Dabei sind die Griechen ein typischer Fall, wenn auch ein Kuriosum: Hellas »kannte überhaupt kein historisches Gefühl, unterließ folgerichtig jede Datenorientierung und warf die Ereignisse und Gestalten der Geschichte so wahllos durcheinander, wie wir es bei Herodot sehen können ...«
Darum kommt wieder Spengler zu Wort: »Wir Menschen der westeuropäischen Kultur sind mit unserem historischen Sinn eine Ausnahme und nicht die Regel; Weltgeschichte ist unser Weltbild, nicht das der Menschheit.«
Ceram führt nun Einzelheiten vor, die das Gesagte bestens verbildlichen:
»Im Verlauf von rund hundert Jahren Forschungsarbeit verlegte man zum Beispiel das erste dynastische Datum der ägyptischen Geschichte ... (König Menes) vom Jahre 5867 v.Chr. auf das Jahr 2900 v.Chr.« Das auf diese Weise erschütterte Vertrauen des Geschichtsstudenten baut Ceram nun mit einer langen Betrachtung über die Erstellung von historischen Daten mühsam wieder auf.
Als erstes Beispiel bringt er die »Königsliste WB 444 mit den Königen vor der Sintflut«, in der die Herrscher durchweg Jahrzehntausende regierten, der erste 28.800 Jahre, der zweite 36.000 Jahre usw. Das ist zur Vertrauensgründung kaum geeignet. Dagegen gibt es spätere Listen aus Babylon, die vernünftige Jahresabstände bringen, auch wenn diese wegen eines fehlenden Fixpunktes völlig in der Luft hängen. Außerdem haben die »Listenverfasser ganz nach Belieben Könige, die sie für unwichtig erachteten, ausgelassen; oder sie waren ohne eigene Schuld falsch informiert; oder sie hatten von anderen falsch abgeschrieben; oder sie hatten ganz einfach verschiedene Dynastien, die gleichzeitig regiert hatten, untereinander statt nebeneinander aufgeführt.« Ganz einfach.
Z. B. behauptete »Sargon (um 2350 v.Chr.), daß nicht weniger als 350 Könige vor ihm über das Land Assur geherrscht hätten«, was natürlich »eine ganz unmögliche Behauptung« sei.
Als schmalen Ausweg, der dennoch ebenso seine Tücken hat, stellt Ceram die »Daten- und Eponymenlisten« vor. (Mit Eponymen sind hier Jahre gemeint, die nach Ereignissen benannt sind, also im Jahr des Erdbebens, der Sturmflut, des 11. September ...) Auch hier liegen »Fallstricke für die Forscher« bereit, wie an Beispielen erläutert wird. Die Schreiber hatten nämlich »oftmals Jahresnamen geändert – aus dynastischer Laune, aus Gründen bewußter Geschichtsfälschung oder sonst aus irgendeinem Anlaß. Und schließlich hatten die Schreiber die Angewohnheit, die Namen abzukürzen – oft bis zur Unverständlichkeit – oder sie zitieren aus dem Gedächtnis und zitieren falsch! Schon aus diesen Beispielen dürfte es klar sein, daß die Aufstellung des Chronologie-Gerippes für die Alte Geschichte zu den bedeutendsten Leistungen der historischen Wissenschaften zählt.« Wer diese Leistung vollbrachte, erwähnt Ceram leider nicht.
»Es ist recht kurios, daß ein heutiger Forscher auf Grund seines Einblicks in ein Material, das dem babylonischen Provinzchronisten gar nicht zur Verfügung stand, bereits in der Lage ist, an der Arbeit der vor mehr als drei Jahrtausenden verstorbenen Chronisten strenge Kritik zu üben – besser gesagt, kurios ist nicht die Möglichkeit der Kritik, sondern die Tatsache, daß er die Möglichkeit wahrgenommen hat.« Mit einem wörtlichen Zitat eines Sumerologen wird die ganze Ironie auf die Spitze getrieben. Ich spare das hier aus.
Dann werden auch die Königsinschriften einer Prüfung unterzogen und als relativ untauglich erkannt, weil ja diese Despoten sich stets verherrlichen ließen (Hitler wird als modernes Beispiel herangezogen), weshalb weder die verzeichneten Schlachten noch die Friedenstaten der Wirklichkeit entsprechen müssen.
Spannend wird es dann, als die wirkliche Lösung dargestellt wird: der Zaubergriff sind die Synchronismen, vor allem mit der Bibel und der ägyptischen Geschichte, die ja inzwischen schon vorangekommen und auf sehr enge Fehlergrenzen festgelegt waren. Die Schwankungen über mehrere Jahrtausende hatte man mit Hilfe der Sothisdatierung eingeschränkt.
Zuerst hatte nämlich »der große deutsche Historiker Eduard Meyer in seiner Ägyptischen Chronologie 1904 und 1908 auf Grund der Sothis-Perioden das älteste Datum der Weltgeschichte errechnet: den 19. Juli 4291 v.Chr.!« Später mußte man dann von diesem Thron etwas herunterkommen, aber für das 2. Jahrtausend v.Chr. stehen immerhin Daten zur Verfügung, die auf zehn Jahre genau sind.
Und nun tauchte ein neues Problem auf – »die datenmäßige Festlegung Hammurabis. Es war längst gelungen, höchst nebensächliche, zweit- und drittrangige Könige des 2. Jahrtausends (v.Chr.) zeitlich genau zu fixieren, aber trotz allen Scharfsinns gelang es nicht, den ganz ohne Zweifel bedeutendsten König an Euphrat und Tigris, den großen Gesetzgeber Hammurabi, an rechter Stelle einzuordnen.«
Also nicht einmal die relative Einreihung war möglich.
Man zog sogar die Archäologie mit ihren Schichtenfolgen zu Rate, nahm Stilvergleiche von Kunstwerken vor, und kam schließlich auf 20. oder 19. Jh. v.Chr. Dadurch fehlten zwei Jahrhunderte. »In der alten ägyptischen und noch besser in der babylonisch-assyrischen Chronologie konnte man sich darüber hinwegmogeln; es gab genügend Dynastien und genügend Könige.« Nur bei den Hethitern fehlten dann diese zwei Jahrhunderte schmerzlich. Schrittweise ging man herunter mit der Datierung, aber es reichte nicht.
Bis man einen Synchronismus fand, einen Zeitgenossen des Hammurabi, den Herrscher Samsi-Adad, der aus der »Assyrischen Königsliste« bekannt war und um 1780-1750 regierte. Daraus »ergab sich für die Regierungszeit Hammurabis nun zweifelsfrei ›um 1700‹ – heute können, nach Auswertung zahlreicher Urkunden, als ›ziemlich gewisse‹ Regierungszeit die Jahre von 1728 bis 1686 angenommen werden. Mit einem Schlage war damit eines der wesentlichsten Chronologie-Probleme der Alten Geschichte gelöst.« Und damit waren auch »die zweihundert Jahre, die nur auf dem Papier existiert hatten, dahingeschmolzen.«
Von hier aus rückwärts vorstoßend wurde Sargon I bestätigt, er gründete sein Großreich 2350 v.Chr. »Es ist das höchste geschichtliche Datum, das von der Forschung bis jetzt (1950) mit einigem Anspruch auf Richtigkeit errechnet werden konnte.«
Zum Schluß bringt Ceram eine Beschreibung der gerade entdeckten C14-Methode und feiert sie als das absolute Mittel, um Chronologiefragen eindeutig zu beantworten. Daß dies im Laufe der nächsten Jahrzehnte schiefging, hat er nicht geahnt.
Mit diesen verkürzten Auszügen (vor einem halben Jahrhundert schrieb man noch etwas blumiger und ausführlicher als heute) will ich den berühmten Schriftsteller nicht lächerlich machen. Er hat nämlich – meines Wissens erstmals – die Ausmerzung eines künstlichen ›dark age‹ (dunkles Zeitalter) in der Geschichte des Alten Orients anschaulich dargestellt. Dabei hatte er sich mehrmals laut gewundert, warum die Historiker nicht gleich erkannten, wo der Fehler lag. Und das können wir nun auch: Wir wundern uns, warum jener Denker, nachdem er den ganzen Vorgang der Chronologiebildung durchleuchtet und deren Schwächen erkannt hat, nicht lauthals lachte über die neugefundenen Daten, sondern seinen Lesern diese als der Weisheit letzten Schluß darbot. Das bleibt ein echtes Rätsel.
Es müßte ihm (wie auch vielen anderen Historikern) durch die lange Beschäftigung mit dem Thema klar geworden sein, daß die »Hethiter« ihre zeitliche Einordnung nur über den Namensgleichklang mit Passagen in der Bibel und dadurch mit der biblischen Chronologie erhalten hatten. Wenn man ihnen einige Jahrtausende nimmt, rutschen sie ins »Mittelalter« und damit in einen Zeitraum, der ihnen religiös wie kunsthistorisch angemessen ist.

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